Die Ursprünge des untergärigen Lagerbieres - Eine Theorie

Schlenkerla Smoke Kiln

Lagertanks in den Jahrhunderte alten Felsenkellern unter der Schlenkerla Brauerei

Der heute weltweit dominierende Bierstil, zumindest was die verkauften Literzahlen angeht, ist untergäriges Lagerbier (z.B. Pils, Export, Hell, Kellerbier u.ä.). Diese Bezeichnung leitet sich davon ab, daß in der klassischen handwerklichen Herstellung Wochen oder sogar Monate vergehen, bis das Bier die volle Geschmacksreife erreicht (industrielle Brauereien haben in den letzten Jahrzehnten Verfahren entwickelt, mit denen untergärige Biere deutlich schneller, d.h. ohne nennenswerte Lagerung hergestellt werden können. Da dieser Text hier jedoch den historischen Hintergrund beleuchten soll, werden diese neuen Verfahren außer Acht gelassen). Obergärige Biere (z.B. Weizen, Alt, Kölsch) erreichen ihren Endvergärungsgrad dagegen meist innerhalb weniger Tage. Der Hauptgrund für dieses unterschiedliche Gärverhalten liegt in der Temperatur begründet: Untergärige Hefe arbeitet am besten bei ca. 8°C, wogegen obergärige Hefe 15°C und mehr benötigt. Und wie viele andere chemische Prozesse läuft auch die Gärung bei höheren Temperaturen schneller ab.

Das untergärige Lagerbier trat seinen weltweiten Siegeszug am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erfindung der künstlichen Kühlung an, da diese es den Bierbrauern ermöglichte unabhängig von der Außentemperatur untergärige Hefe zu verwenden. Seither dominieren z.B. im Norden Deutschlands die Biere "pilsener Brauart" der (damals) neuen Industriebrauereien den Markt (und haben in dem Prozess viele alte obergärige Bierstile verdrängt). Das Original Pils aus Böhmen (heute Tschechien) ist ebenfalls untergärig, vom Charakter her aber leicht anders, als das deutsche Pils. (Es sei darauf hingewiesen, daß der Begriff "Lagerbier" im deutschen viel enger gefasst ist, als im Englischen. Heute versteht man in Deutschland unter Lager primär ein Vollbier mit ausgeprägtem Malzcharakter und relativ wenig Hopfen, wogegen im Angelsächsischen der Begriff generell für alle untergärigen gelagerten Biere steht).

In manchen Texten kann man lesen, daß es die untergärige Lagerbier Hefe erst seit dieser Erfindung der Kältemaschine gäbe, aber das ist ein Mythos. In der Tat ist es so, daß früher im Winter untergärig und im Sommer obergärig gebraut wurde. Nur Bierbrauer, die Zugang zu kalten Räumlichkeiten (z.B. Felsenkellern) hatten, konnten auch im Sommer untergärige Lagerbiere brauen. Und diese Lagerbiere waren häufig beliebter als die obergärigen Biere, weil man sie für bekömmlicher hielt (auch einige moderne Studien legen nahe, daß obergärige Biere aufgrund des höhen Esthergehaltes eher Kopfschmerzen verursachen). Diese Bevorzugung kann man auch in alten Gerichtsakten finden: Im 14. Jahrhundert verklagten in Nürnberg Brauereien ohne Felsenkeller solche mit Felsenkeller, da letztere illegal "kaltes" (d.h. untergäriges) Bier im Sommer ausschänkten (Nürnberg hatte ein Vorschrift, daß dies verboten war, um Wettbewerb unter den Brauereien zu verhindern). Diese historischen Felsenkeller - wie auch der noch heute im Betrieb befindliche der Brauerei Schlenkerla aus dem 14. Jahrhundert (siehe Bild) - haben üblicherweise Temperaturen zwischen 7° und 10°C.

Eine weitere häufig geschriebene Legende ist, daß die Brauer früher gar nicht wußten, daß es Hefe gab bzw. was diese war und daß alle Biere spontan vergärten (d.h. die Hefe aus der Luft "von selbst" ins Bier hineinkam). Das war vielleicht bei der Erfindung des Bieres vor 10.000 Jahren so. Aber seit es Klosterbrauereien gab (also mindestens seit dem 8. Jahrhundert n.Chr.) und damit eine wissenschaftliche und handwerkliche Rangehensweise an das Bierbrauen existierte, ist die Spontangärung bis auf wenige Ausnahmen unüblich geworden. Spätestens ab da war den Bierbraueren sehr wohl klar, was Hefe war und wofür sie benötigt wurde. Manchmal wird auch behauptet daß Hefe unbekannt war, weil sie nicht im Bayerischen Reinheitsgebot von 1516 als erlaubte Zutat für Bier erwähnt wurde. Aber dafür gibt es einen anderen Grund: Eine Zutat wird im Herstellungsprozess aufgebraucht, aber die Hefe ist ein lebendiger Organismus, der sich von Bier ernährt und vermehrt. Mithin hat man am Ende der Gärung mehr Hefe, als am Anfang, und somit ist die Hefe aus dieser Sicht keine Zutat. Das hört sich alles recht theoretisch und spekulativ an? Nein! Es gibt Beweise für die Einschätzung, daß die Eigenschaften der Hefe bekannt waren: Im 15. Jahrhundert stritten in München die Bäcker und Brauer vor Gericht um das lukrative Hefemonopol, d.h. wer das Recht hatte, den jeweils anderen (entgeldlich) zu beliefern. In der Tat war es sogar so, daß es einen eigenen Beruf zur Hefebehandlung gab: Den Hefner (oder Häfner). Der Nachname ist noch heute in Franken gebräuchlich, und hat auch international einige Bekanntheit erreicht (der Gründer des Playboy hieß Hugh Hefner und hatte deutsche Wurzeln, stammte also vermutlich aus einer Familie von Hefnern). Die Aufgabe des Hefners war es, am Ende der Gärung die Hefe zu ernten und sie für den nächsten Sud aufzubereiten. Das in der Hefe verbliebene Bier wurde dabei herausgepresst und als günstiges Bier an Arme verkauft.

Hefe ist ein lebender Organismus und nach der Evolutionstheorie von Charles Darwin überlebt der am besten an die Umwelt angepasste Organismus ("survival of the fittest"). Und so fügen sich die Puzzlestücke zusammen: Die natürliche Umgebungstemperatur in (fränkischen) Felsenkellern liegt bei ca. 8°C. Der allererste Sud Bier wurde mit einer Mischung verschiedener Hefestämme gestartet, und die Hefe, die am besten mit der Felsenkellerumwelt (eben 8°C) zurecht kam, vermehrte sich am meisten. Der Hefner erntete diesen Hefemix am Ende der Gärung und gab ihn dem nächsten Sud zu. Die gut angepasste Hefe hatte nun schon einen Startvorteil aufgrund des höheren Mengenanteils, und konnte so erst recht die übrigen Hefestämmen im Wachstum übertreffen. Dieser Vorgang wiederholte sich wieder und wieder, monatelang, jahrelang, jahrzehntelang, jahrhundertelang. Das Resultat war ein Zuchtprogramm für Hefestämme, die sich am besten bei 8°C vermehren. Man kann in Summe also durchaus vermuten, daß fränkische Bierbrauer schon seit mindestens 600 Jahren untergärige Biere brauen. Und da Franken und Böhmen (heute Tschechische Republik) viele kulturelle Gemeinsamkeiten haben, ist zu vermuten, daß es dort ebenso war. Sowohl das fränkische Lagerbier (z.B. Landbier, Kellerbier, Rauchbier) als auch das Tschechische Pilsener sind somit Repräsentaten dieses alten Biertypus. Und mit der Erfindung der künstlichen Kühlung wurde diese Gärtechnik überall und jederzeit verfügbar und so verließen die Lagerbiere und Pilsbiere ihre "Geburtsregionen" mit ihrer Hefe und eroberten die Brauwelt.

Ein letztes interessantes historisches Detail: Die Ammoniak Eismaschine wurde vom Franken Carl von Linde in den 1870er Jahren erfunden und wesentlich von Brauereien wirtschaftlich unterstützt bzw. nachgefragt. Man könnte also durchaus sagen, daß es ohne Franken und ohne Brauereien heute auf der Welt keine Kühlschränke gäbe. Gerne geschehen!

weiterlesen: Geschichte des Schlenkerla | Geschichte des Rauchbieres